Jugendliche Subkultur im Isartal

1991 bis 1998

Im idyllischen Isartal südlich von München konnte sich zwischen 1991 und 1998 eine jugendliche Subkultur entwickeln, die sich in punkto Musikgeschmack und modischem Stil klar vom vorherrschenden Mainstream abgrenzte, während ein alles verbindendes Medium wie das Internet noch nicht bei der breiten Masse angekommen war. Begonnen hatte alles um 1991, als mit den Sickboys aus Puppling die seinerzeit erste Band der Isartaler Szene durch die Ickinger Gymnasiasten Thomas S. und Robert S. mitgegründet wurde, die subversiven Punkrock zum Besten gab. Sven J., Pit A. sowie Thomas und Robert S. formten bald darauf das kurzlebige Post-Punk-Projekt Chaotic Dreams, mit dem sie ein gleichnamiges Lied professionell im Studio aufnahmen. Ihm folgte kurz darauf die Ickinger Schülerband Voodoo Chile, die ebenfalls um 1991 herum entstand. Der Name der Band war die Idee des Drummers Stefan T., der sich dabei von dem Lied Voodoo Chile von Jimi Hendrix inspirieren lassen hatte. Mitglieder von Voodoo Chile spielten später oder zeitgleich unter anderem bei Vivid Grey, Memory’s Garden, Funkrobatic, Ulrichs Hill, Hole In The Head, den Emil Bulls, der Strahlenden Zukunft, Polcid AC und den Sons of Sun. Voodoo Chile selbst hatte nur kurz Bestand und spielte etwas, das mitunter als Grunge durchgehen könnte. 1992 schon löste sich die Combo wieder auf, und die Bandmitglieder gingen musikalisch ihre eigenen Wege.

Der harte Kern des Umfelds der Bands im Isartal zwischen Hohenschäftlarn und Wolfratshausen umfasste vielleicht 15 bis 20 Leute, die maßgeblichen Einfluss auf Stil und Geschmack der Szene hatten und die Konzerte und Feste organisierten. Die Angehörigen dieser Isartaler Clique wohnten alle zwischen Hohenschäftlarn und Wolfratshausen oder den umliegenden Dörfern und verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit zusammen. Die Geretsrieder bildeten eigene Cliquen, mit dem Saftladen als einem wichtigen Treffpunkt, gingen aber zum Teil auf die gleichen Feste wie die Isartaler. Integrierende Lokalität für soziale Kontakte war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre aber das Pfadfinderheim in Geretsried-Stein, wo sich Ickinger und Geretsrieder Pfadfinder, die Isartaler Clique und die Geretsrieder Cliquen um die Bands Hole In The Head und Witness trafen. Aus Witness entstand 2003 A Life Divided, die heute bei dem Label AFM Records unter Vertrag stehen.

Insgesamt dürfte sich die Pfadi-Gruppe auf vielleicht 100 Personen belaufen haben. Man kannte sich, redete miteinander und manchmal, aber sehr selten, prügelte man sich auch. Die Angehörigen der Isartaler Clique besuchten meist das Gymnasium Icking, das Gymnasium Kloster Schäftlarn, die Pullacher oder die Wolfratshauser Realschule. Während sich gesellschaftlich meist alles um das Pfadi drehte, oszillierte das musikalische Zentrum der Szene um das Kleinkunstcafé Hinterhalt in Gelting. Hier fanden regelmäßig Konzerte statt, wichtige Bands wie die Indie-Truppe Bananafishbones traten hier auf, aber auch die folkig angehauchten Indie-Rocker Vivid Grey, die Sickboys-Nachfolgeband Memory’s Garden, Cry Baby, die Rockabilly zum Besten gaben, die All-Girl-Band Haphazard Ladybugs, Hole In The Head mit dem ihnen zu eigenen Crossover, die Heavy-Metal-Band Witness, natürlich die Alternative Metaler Emil Bulls und schließlich die Punk-Formation Strahlende Zukunft. Funkrobatic, deren Namen für sich spricht, spielten hier ebenfalls auf. Möglich machte die Konzerte Hinterhalt-Wirt Hias R., der den Bands im Rahmen seines Rock für Fünf-Programms auch einen Großteil des Eintrittsgeldes zugestand und hauptsächlich an den Getränken verdiente. Eine weitere Location war der Jugendraum in Icking, in dem die Punk-Combo Holy Tedder ihre Stelldicheins gab, und auch der einzige Auftritt von Amok/Koma stattfand, einem Projekt mit Holy Tedder- und Strahlende Zukunft-Mitgliedern.

Alle Bands hatten überwiegend regionalen Bezug und zogen derart je Gig vielleicht zwischen 40 und 150 Leute an. Waren Vivid Grey, Memory’s Garden, Cry Baby, die Ladybugs, Holy Tedder, Ulrichs Hill und die Strahlende Zukunft überwiegend Gewächse mit Beteiligung Ickinger Gymnasiasten, fanden sich in den Reihen der Emil Bulls Kloster Schäftlarner Internatszöglinge. Bei Funkrobatic war neben den üblich verdächtigen Ickingern auch ein Kloster Schäftlarner im Line-up, der Drummer Tibor F. (ex-Strahlende Zukunft). Ulrichs Hill, in ironischer Hommage an die ultrafiesen Rapper von Cypress Hill und nach dem Ulrichshügel bei Icking benannt, war ein Spaßprojekt unter anderem von Cry Baby-, Holy Tedder- und Vivid Grey-Bandmitgliedern, das um 1994 auf einem Ickinger Schulfest debütierte.

Andere Konzertorte jener Jahre waren das JUZ Pullach, der Saftladen in Geretsried, das „Rock gegen Rechts“-Festival bei der Eissporthalle in Geretsried, das Geretsrieder Kleinkunstfest, aber auch das Reiterstüberl Stephanie in Icking, wo im Do it yourself-Verfahren kurz vor dem Auftritt noch eine Bühne zurechtgezimmert wurde und sich unter anderem zur Musik von Vivid Grey, Hakle Foicht und bei einem der ersten Konzerte der Emil Bulls überhaupt um die 300 Gäste einfanden. Im Gasthof Dröscher in Hohenschäftlarn traten die Emil Bulls 1996 mit der Strahlenden Zukunft vor etwa 60 Zuschauern auf, 1995 war der Gasthof Lacherdinger in Ascholding Schauplatz mehrerer Konzerte unter anderem von der Münchner Hardcorecombo Couch, deren gleichnamiges Debutalbum 1995 bei dem Weilheimer Label Kollaps-Records erschienen war. Auch die Bananafishbones, Hole In The Head und die Strahlende Zukunft intonierten ihre Ständchen im Lacherdinger. Andere, jährlich wiederkehrende Quellen steter Freude waren ab 1993 Sven J.‘s Natural Afro Trip-Feste, auf denen Funkrobatic neben namhafteren Cosmic-DJs wie Atryoo aus Innsbruck öfter ein Gastspiel gaben. Funkrobatic sollten es im Frühjahr 1998 bis in die europaweite Endausscheidung des Emergenza-Nachwuchsfestivals im Disneyland von Paris bringen. Ein Jahr zuvor hatten die Emil Bulls in München das regionale Finale in München und Platz drei europaweit in London gewonnen. Sie unterschrieben schließlich bei Island Records, wechselten später zu Motor, bevor sie schließlich bei Drakkar landeten. Zur Zeit sind sie bei AFM Records unter Vertrag. Die Emil Bulls sollten die einzige Band aus dem Dunstkreis der Isartaler Clique bleiben, die bei einem Major Label unterzeichnete. Wohl aber entstanden aus den Bands jener Zeit, die sich größtenteils schon längst wieder aufgelöst haben, neue Projekte wie die Indie-Combo Polcid AC, die Elvis-Coverband Sons of Sun, während Marc R. von der Strahlenden Zukunft bei der Münchner Punkband Missbrauch einstieg, Paul R. (ex-Vivid-Grey, ex-Ulrichs Hill, ex-Hole In The Head, ex-Funkrobatic, ex-Emil Bulls) zeitweise bei der Hip-Hop-Band Fiva und das Phantomorchester mitspielte, und sich Christoph v. F., Jamie R., Chrissie S. und Paul R. von den Emil Bulls um die Nuller Jahre kurz als Demonwax manifestierten und eine astreine Stoner-Scheibe ablieferten. Andreas S. (ex-Holy Tedder, ex-Ulrichs Hill, ex-Funkrobatic) zupfte eine Zeit lang bei der Düsseldorfer Jazz-Band Honeymunch Bass, bevor er sich in Berlin mit seinem Bruder Hannes (ex-Vivid Grey, ex-Ulrichs Hill) zu Popstickel vereinigte. Die älteste noch bestehende Band jener Zeit sind Memory’s Garden um die Zwillinge Thomas (ex-Sickboys, ex-Chaotic Dreams ex-Vivid Grey, ex-Strahlende Zukunft) und Robert S. (ex-Sickboys, ex-Chaotic Dreams, ex-Strahlende Zukunft), die bis zu deren Auflösung 1998 auch bei der Strahlenden Zukunft Bass und Gitarre spielten. Bis 1998 hatten sich auch die meisten anderen Isartaler Bands aufgelöst und nach und nach zogen viele Szenegänger aus dem Isartal weg, nach München um zu studieren, oder noch weiter weg. Man sah sich seltener, ab und zu noch auf Konzerten oder DJ-Auftritten auch in Berlin, wohin es viele Isartaler verschlagen hatte. Im Jahr 2000 schließlich lösten sich als vorerst letzte Band jener Zeit Funkrobatic auf, so dass lediglich Memory’s Garden bis heute Bestand haben. Mittlerweile haben viele ehemals harten Rock´n´Roller geheiratet, Kinder bekommen, und stehen voll im Berufsleben, das nur im Glücksfall noch etwas mit Musik zu tun hat, denn von Kultur alleine lebt es sich heute meistens leider schlecht.

Diese Compilation erhebt nicht den Anspruch auf vollständige Erfassung des musikalischen Geschehens zwischen 1991 und 1998 am Isartal, sondern soll vielmehr ein Schlaglicht auf die lebendige Underground-Szene jener Jahre dort werfen. An dieser Stelle gilt mein Dank meinem Bruder Paul, David B., Sven J., Markus K., Thomas S., Andreas S. und Frank W., ohne die diese Sammlung nicht zustande gekommen wäre.

Danke für den Fisch,
Euer Old School Rude Boy
Osman.